Jahresthema 2015: Würdelose Grenzen – Grenzenlose Würde
Im Jahr 2014 waren 51 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Nur wenige erreichen Europa, das seine Außengrenzen abgeriegelt hat und mit zunehmender Abwehrhaltung reagiert. Sehr präsent sind die Bilder von überfüllten Booten im Mittelmeer oder der spanischen Exklave Ceuta, die Menschen zeigen, die an den EU-Außengrenzen sterben. Dann die Bilder von Menschen, die es bis nach Deutschland geschafft haben, aber mit hasserfüllten Sprechchören empfangen werden oder in ihren Unterkünften Misshandlung durch das Sicherheitspersonal fürchten müssen. Ein neues Phänomen ist die Pegida-Bewegung, die Menschen in gemeinsamem Protest auf die Straße bringt, deren Beweggründe aber ganz unterschiedlich sind. Was sie eint, ist eine Sprache der Ausgrenzung und eine latente oder zum Teil auch offene Menschenfeindlichkeit. Hier endet die Idee eines Europas, in dem alle Menschen frei und sicher sind.
Politisch, gesellschaftlich und individuell stellt sich die drängende Frage, wie wir Menschenwürde verstehen. Die Achtung der Menschenwürde als eines der Gründungsprinzipien der Europäischen Union und im deutschen Grundgesetz zu verankern, war eine historische Antwort auf die Gewalttaten des Zweiten Weltkriegs. Die Menschenwürde ist universal, ein Status, der nicht verloren gehen kann, unantastbar. Dennoch schweigt sich das Grundgesetzt zur Definition von Würde aus. Dieser Umstand gepaart mit der emotionalen Konnotation macht sie beliebig einsetzbar in Sonntagsreden oder als „conversation stopper“ (Birnbach).
Der Theologe Wilfried Härle beschreibt Menschenwürde als „das Anrecht auf Achtung als Mensch“. Seine Definition umfasst sowohl die rechtliche Verpflichtung, die es ermöglicht, Menschenwürde einzuklagen. Härle geht aber darüber hinaus, denn seine Definition betont den Dialog, der das Wahrnehmen und die Wertschätzung des Anderen ermöglicht. Die Bildungsarbeit der Kreisau-Initiative setzt hier an: Wir bringen Menschen zum einen in einen Dialog über die Rahmenbedingungen eines Lebens in Würde, aber der wichtigere Teil unserer Arbeit ist es, Räume zu schaffen, in denen Menschen sich in ihrer Diversität wahrnehmen können. Prämisse der Kommunikation und des Handelns ist stets die Wertschätzung des Gegenübers. Diese Kompetenz ist wie ein Muskel, der trainiert werden kann. Und wie ein Reflex, der auf den hohlen Begriff eines "Europas der Toleranz" reagiert. Denn dieses Europa steht vor der Zerreißprobe: in Dresden, in Paris, in Ceuta, in Athen, in Budapest oder in Donezk.
Daraus formuliert sich der Auftrag an unsere Bildungsarbeit: Gemeinsam mit den Jugendlichen, Projektpartnern und Trainer_innen wollen wir an einem Europa der Achtung und Akzeptanz arbeiten und so der Vision von grenzenloser Würde näherkommen.